In sozialen Netzwerken ist die ganze Bandbreite an Glaubenssätzen zum Thema „Arbeit“ zu finden: Es gibt Menschen, die mit den Achseln zucken und sagen „Muss ja“, um wöchentlich anderthalb Mindestlohnjobs abzuleisten. Andere predigen, dass jede*r alles erreichen kann, wenn man nur alles gibt. Demnach ist jede*r seines oder ihres eigenen Glückes Schmied.

Doch vor allem junge Mütter stecken in der Teilzeitfalle, stagnieren in ihren Karrieren und geben auf. Sie resignieren zum einen, weil sie in keine Vollzeiteinstellung mehr kommen. Sie resignieren aber auch, weil sie wissen: Das kann nicht das Ziel sein. Das Konstrukt von Vollzeitarbeit kann noch gut laufen, wenn keine Kinder da sind. Aber sobald aus einer Beziehung eine junge Familie wird, bricht es zuverlässig regelmäßig zusammen. 

Die 35-Stunden-Woche: Der Niedergang des Wirtschaftsstandortes Deutschland?

Denn dann kommt oft die Frage: Wofür das alles? Arbeiten, arbeiten, arbeiten, um das Bruttosozialprodukt zu steigern? Für das Arbeitsethos? Aber wo bleibe ich? Wo bleibt meine junge Familie? Ist Arbeit nicht anders möglich? Mit Antworten tut sich insbesondere Deutschland schwer. Mit der hart erkämpften 35-Stunden-Woche für Lokführende ging eine Eruption durch Deutschland.

Und auch hier wurde und wird wieder in mindestens zwei Lagern gekämpft: Die einen freuen sich, dass eine Gewerkschaft eine Senkung der Wochenarbeitszeit erreichen konnte. Die anderen sehen darin den Beweis der sinkenden Arbeitsmoral, der absoluten Verlotterung und einer arbeitsfaulen Gesellschaft. Warum ist es so schwer denkbar, weniger zu arbeiten? Geht der Wirtschaftsstandort Deutschland unter, wenn wir weniger arbeiten? 

Wir sind mehr als Arbeitnehmende

„Nein“, sagt Elly Oldenbourg. Sie war mehr als zwölf Jahre Managerin bei Google, bevor sie das Vollzeit-Modell hinter sich ließ. Auch bei ihr war die Geburt ihres ersten Kindes einer der ausschlaggebenden Knackpunkte. Sie ging in Teilzeit und nutzte das Jobsharing-Modell, um ihren Beruf weiterhin ausüben zu können, aber auch Zeit für andere Lebensbereiche zu haben. Denn wir sind mehr als unsere Arbeit: „Beziehungen pflegen, sich gesellschaftlich engagieren, an sich selber arbeiten: Das alles braucht viel Zeit, das alles aber sehen wir nicht als Arbeit“, sagt sie. „Damit reduzieren wir uns zu Schrumpfversionen unserer selbst, nur um besser in die Arbeitswelt zu passen.“

In ihrer nun freigewordenen Zeit baute sich Elly Oldenbourg eine Neben-Selbstständigkeit auf und engagierte sich karitativ. So wurde sie Gastgeberin eines philosophischen Salons in Hamburg, der am frühen Morgen zu anregenden Gesprächen einlädt. Außerdem wurde sie Wertebotschafterin bei der Bildungsinitiative #GermanDream und ist heute Aufsichtsrätin beim World Future Council. 

Mindshift für Workshift

In ihrem Buch „Workshift“ zeigt Elly Oldenbourg, dass dieser Traum von echter Vereinbarkeit – der Vereinbarkeit von allen Lebensbereichen – nicht nur für Führungskräfte, Manager*innen und Work-Life-Coaches möglich ist. Aus ihrer ganz persönlichen Geschichte heraus entwickelt sie 22 Ideen, wie wir als Individuen, aber vor allem als Unternehmen, eine zukunftsgerechtere Arbeitswelt schaffen können. Denn es braucht etwas Arbeit von beiden Seiten. 

Wir alle sollten überdenken, welchen Stellenwert Arbeit in unserem Leben hat. Denn wenn Arbeitnehmende das Gegebene hinnehmen und keine Veränderungen fordern, werden sie auch nicht kommen. Auf einer individuellen Ebene braucht es für einen Workshift einen Mindshift. Elly Oldenbourg fragt:

„Sollte es nicht gerade bei Gutverdienenden eher eine ,Vollzeitscham‘ geben, weil sie ihr Leben so strukturiert haben, dass sie möglichst viel Karriere machen, möglichst viel privat outsourcen können und sich ansonsten für sehr wenig anderes gesellschaftlich aktiv (also auch zeitlich) engagieren?“ 

Organisationen sind in der Bringschuld

In ihrem Buch hält sie zu den Themenbereichen „Zeit“, „Kollaboration“, „Vielfalt“ und „Kennzahlen“ aber nicht nur tolle Impulse für Arbeitnehmende bereit. Sie widmet sich als Managementexpertin auch immer der unternehmerischen Perspektive. Und sie räumt mit einer großen Zahl an Bedenken und Kontra-Argumenten auf, die auf falschen Fakten und veralteten Rollenmodellen beruhen. So sollte es mittlerweile allgemein klar sein, dass niemand – wirklich niemand – 40 Stunden pro Woche effizient arbeitet. Und es ist ein Fakt, dass einige Mitarbeitende Projekte in Teilzeit stemmen, für die andere eine Vollzeitstelle benötigen. Es ist also dringend an der Zeit, den Zusammenhang von Arbeitszeit und Leistung zu hinterfragen. 

Elly Oldenbourg dröselt Stück für Stück auf, warum der Workshift (auch) für Organisationen dringend notwendig ist, um zukunftsfähig zu bleiben, Talente zu binden und krisenfest zu werden. Dafür müssen die notwendigen Maßnahmen – Jobsharing ist der Autorin ein besonders dringendes Anliegen – aber höchste Priorität haben. „Ich möchte dazu anregen, nicht mehr zu sagen: Wir müssen zuerst den unternehmerisch gesetzten Normen gerecht werden. Um dann, wenn wir es schaffen, irgendwann in die dafür erforderlichen Positionen zu kommen, das System von innen heraus zu verändern“, so Elly Oldenbourg. Wir sehen nämlich an Themen wie Nachhaltigkeit und Diversität, wie gut das funktioniert. Nicht.

Demokratische Teilhabe braucht Zeit

Sie macht aber auch die gesellschaftliche Perspektive auf: „Wenn Menschen keine Zeit haben, bringen sie sich in vorpolitischen und politischen Räumen nicht mehr ein.“ Niemand will sich mehr in den Elternbeirat der Kita und Grundschule wählen lassen, von Engagement in Sekundärschulen wollen wir gar nicht reden. Der Kuchen für das Sommerfest wird nur gekauft, nicht selbst gebacken. Feuerwehren fehlt der Nachwuchs, Erwachsene wollen sich in Vereinen als Trainer*innen, Leiter*innen oder einfache Unterstützung nicht mehr zeitlich binden. Weil: Keine Zeit. In einer Demokratie, die von Teilhabe lebt, ist das tödlich. 

Elly Oldenbourg verknüpft diese Entwicklung wiederum mit der Verantwortung von Unternehmen und der Wirtschaft. Sie macht sichtbar: Alles hängt mit allem zusammen. Wir brauchen selbstbestimmte, starke Individuen, die Lust und die notwendige Energie haben, um sich als Arbeitnehmende, Eltern, Ehrenamtliche und in so vielen anderen Rollen einzubringen. Elly Oldenbourg bringt diese Bedingung für eine zukunftsgerechte (Arbeits-)Welt wunderbar auf den Punkt. 

Roter-Reiter-Fazit

Ist dieses Buch der Tipping Point? Zumindest ist es nahe dran. Elly Oldenbourg zeigt uns allen, als Individuen, Führungskräfte und Arbeitnehmende, wie eine zukunftsgerechte (Arbeits-)Welt aussehen muss. Denn der Workshift ist kein Traum einer arbeitsmüden Generation: Wenn wir gut aufgestellt in die Zukunft gehen wollen, müssen wir unser Mindset und die wirtschaftlichen Systeme verändern. Elly Oldenbourg zeigt das faktenbasiert und mit Eloquenz.

Elly Oldenbourg: Workshift. Warum wir heute anders arbeiten müssen, um unser Morgen zu retten.
Campus, 2024
239 Seiten, 30 Euro

ISBN 9783593518237

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