Mehr Soziodrama, bitte!

Freitag, Juni 25, 2021 Allgemein

Am 1. April 1921 steht Jacob Levy Moreno auf der Bühne eines „Stehgreiftheaters“, in das er für das Stück „Narrentheater des Herren der Welt“ eingeladen hat. Das Besondere dabei: Es gibt kein Skript, es gibt keine Schauspieler und keine Rollen. Er lädt die Zuschauer dazu ein, mit ihm gemeinsam zum Thema der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten zu spielen.

Gerade ist der Erste Weltkrieg vorüber, in Wien herrscht eine angespannte Stimmung. Mit seinem experimentellen Spiel will er sich gemeinsam mit anderen darüber verständigen, die Atmosphäre spiegeln und besser verstehen. Der erste Abend ist ein Misserfolg, das Publikum versteht noch nicht. Auch heute ist das Soziodrama, die szenisch-darstellerische Methode, die aus seinen ersten Versuchen entsprang, noch ein Geheimtipp – aber auch hochwirksam.

Christoph Buckel, Uwe Reineck und Mirja Anderl haben ein umfassendes „Praxishandbuch Soziodrama“ verfasst, in dem sie die Theorie des Soziodramas erläutern und zeigen, wie Trainer und Coaches sie beispielsweise in Gruppenarbeiten und der Organisationsentwicklung anwenden können.

Im anderen sich selbst erkennen

Moreno hatte ein Schlüsselmoment, in dem er die Wirkung des Soziodramas erfasste. Ein Ehepaar hatte Streit, auf der Bühne sollten sie diesen nachspielen. Während dieses Rollenspiels verstand die Frau, was das Problem, die Ursache ihrer Streitigkeiten gewesen war – und fing an zu lachen.

„Anhand dieser Situation begreift Moreno, dass theatrales Spiel eine befreiende Ventilfunktion haben kann, dass es bei Konflikten als eine Art Überlebenstraining eingesetzt werden kann und dass durch die prozessorientierte Arbeit an einem Problem Verhaltensmuster verändert werden können“, erklären die Autoren. Ähnlich können beispielsweise Konflikte im Team erkannt werden. Möglich wäre eine Fragestellung wie „Wie ist es wohl, wie Person XY zu sein?“. Das fordert heraus, die Rolle des unbeliebten Teamleiters oder des immer genervten Assistenten einzunehmen – und seine Position am eigenen Leib zu spüren und zu verstehen.

Oder eine Organisation fragt sich in einem Workshop, welche Werte es eigentlich leben möchte. Dabei können einzelnen Personen die Rollen von Werten wie etwa „Transparenz“, „Nachhaltigkeit“ oder „Zukunftsglauben“ zugeschrieben werden – und in diesen Rollen gehen sie dann in den Austausch mit Führungskräften.

Unsagbares aufdecken und Strukturen begreifen

Das Soziodrama hat verschiedene Phasen, eine große Auswahl an möglichen Settings und Methoden. Aber immer ist es ein Spiel, das sehr viel sichtbar macht: Vorannahmen, ungesagte Kommunikationsregeln, soziokulturelle Werte, Hierarchien und Machtgefälle. „In Zukunft wird es darum gehen, mehr Gemeinschaft, Teamarbeit und auch mehr demokratische Bewegung zu erzeugen“, sagen die Autoren, „Soziodramatische Methoden helfen, den Blick vom Ich zum Wir zu erweitern und Interdependenzen stärker zu berücksichtigen.“ Es lohnt sich also, über das Soziodrama Unklarheiten, Hürden und Herausforderungen sichtbar zu machen – und wenn es dann noch Spaß macht, umso besser.

Roter-Reiter-Fazit

Das Praxishandbuch Soziodrama ist ein umfassendes Werk, das deutlich macht, wie viel Potenzial in dieser Methode steckt. Durch bildhafte Beispieldialoge wird deutlich, wie es in der Organisationsentwicklung angewendet werden kann, was zum Selbst-Ausprobieren einlädt.

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Christoph Buckel / Uwe Reineck / Mirja Anderl: Praxishandbuch Soziodrama. Theorie, Methoden, Anwendung
Beltz Verlag, 2021
327 Seiten, 49,95 Euro
ISBN: 978-3-407-36747-1