In den vergangenen Monaten hat sich in dem Karriere-Netzwerk LinkedIn eine spannende Entwicklung abgezeichnet: Wo früher nur über Business-Themen und neue Anstellungen gesprochen wurde, ist es heute fast nahezu so bunt wie auf Instagram. Eltern informieren über frischgeborene Kinder und die daraus entstehenden neuen Herausforderungen im Job, es werden Themen wie Diversität, Burn-out und Klimawandel diskutiert.

Dieser zu beobachtende Trend steht sicher im Zusammenhang mit den Entwicklungen innerhalb von (jungen) Unternehmen und Start-ups. Dort kann man sich oftmals mit seinen Themen einbringen, Prozesse anstoßen und mitbestimmen, ob das Team in der Mittagspause vegan oder vegetarisch bestellt. Mitarbeitende haben Ansprüche und Bedürfnisse: Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Gleitzeit oder Remote-Arbeiten stehen ganz oben. Andere würden nur für Unternehmen arbeiten, die den eigenen ethischen Maßstäben genügen.

Hier bin ich Mensch, hier kann ich es sein?

Diese Vermischung von privaten und beruflichen Interessen, gesellschaftlichen Themen und Lifestyle bringt Probleme hervor. Denn eigentlich ist es so: „Im Gegensatz zu Partys, Ehen oder Therapie-Sitzungen haben Organisationen keine Verwendung für den ,ganzen Menschen‘“, sagen Kai Matthiesen, Judith Muster und Peter Laudenbach. Niemand möchte die Emotionen, privaten Befindlichkeiten und Ansichten der Mitarbeitenden im Büro diskutieren. Niemand möchte damit konfrontiert sein, dass ein Angestellter eine persönliche Midlife-Crisis hat und deshalb gerade nicht so gut arbeiten kann.

Andererseits gibt es laut der Autoren die Annahme, „Kern und Kernprobleme einer Organisation seien die Menschen, die in ihr arbeiten“. Da müssen die einen an ihrem Mindset arbeiten, um bessere Ergebnisse zu erzielen. Führungskräfte sollen durch vorbildliches Verhalten und Tschakka-Mentalität ganze Transformationsprozesse stützen, und alle paar Monate geht es zur Reflexion in Motivations-Workshops. „Damit drücken sich Organisationsverantwortliche vor ihrer eigentlichen Aufgabe, die Arbeit der Mitarbeitenden gut zu organisieren“, so die Autoren. In ihrem Buch „Die Humanisierung der Organisation“ gehen die drei diesem Missverhältnis unterhaltsam auf die Spur.

Sagen und Tun sind zweierlei

Es ist kein Ratgeber, sondern eher ein Lesebuch, das die Botschaft hat: Der ganze Mensch kommt im Arbeitsvertrag nicht vor, denn er geht die Organisation auch nichts an. Es werden verschiedene Szenerien betrachtet, in denen die Struktur von Organisationen fein seziert und offengelegt wird. So erzählt das Autorenteam von einer Gießerei, in der es über einen längeren Zeitraum zu schweren Arbeitsunfällen kam. Dabei waren die Sicherheitsvorkehrungen und formalen Voraussetzungen in Ordnung, woran lag es also?

Die Leitung machte den Mitarbeitenden keinen Druck, weshalb brachten sich die Kollegen also immer wieder in gefährliche Situationen? Beobachtungen ergaben, dass die Mitarbeitenden zum Regelbruch gezwungen wurden. Die Anlagen waren überaltert, genauso wie die Kollegen, die teilweise bereits seit Jahrzehnten ein eingespieltes Team bildeten. Das Ziel jeder Schicht war es, den Betrieb nicht zu unterbrechen – komme, was da wolle. Denn: Jede Unterbrechung kostete Zeit und Geld. War das Geschäft nicht rentabel, stand der eigene Arbeitsplatz auf dem Spiel. Und so kam es unter Zeitdruck zu lebensgefährlichen Situationen. Die Leitung wusch ihre Hände in Unschuld, denn alle Sicherheitsvorkehrungen waren getroffen worden und es gab keinen sichtbaren Druck. Aber die Anlagen waren marode und die Arbeitsbedingungen unzumutbar, denn die Ziele konnten unter diesen Umständen nicht erreicht werden.

„Unter solchen Bedingungen werden Sicherheitsvorschriften zu Makulatur und Ermahnungen, sie einzuhalten, zur Phrase“, so die Autoren. Auch in diesem Fall kommt der Mensch ins Spiel: Die Mitarbeitenden haben ein gewisses Arbeitsethos, dem sie durch ihr riskantes Verhalten gerecht werden möchten – und den innoffiziellen Druck, den Betrieb am Laufen zu halten. Und das darf nicht sein. „Formale Regeln benötigen Verhältnisse, in denen man diese Regeln einhalten kann“, so Matthiesen, Muster und Laudenbach. „Stellt die Organisation diese Verhältnisse nicht zur Verfügung, zwingt sie ihre Mitglieder zum Regelbruch.“

Roter-Reiter-Fazit

Formalität/Informalität, Mensch/Mitglied/Organisation: Eine spannende Lektüre, die dem widersprüchlichen Wesen von Organisationen nachgeht und die Grundlage für eine Debatte über die Arbeit(sweisen) der Zukunft sein könnte.

Kai Matthiesen, Judith Muster, Peter Laudenbach: Die Humanisierung der Organisation. Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert
Vahlen Verlag, 2022
256 Seiten, 24,90 Euro
ISBN 978-3-8006-6757-4

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