Was haben eine Bank und ein Pflegeunternehmen gemeinsam? Im Falle des niederländischen Bank- und Versicherungskonzerns ING und des niederländischen Pflegedienstleisters Buurtzorg ist es die Selbstorganisation. Buurtzorg, zu Deutsch „Nachbarschaftspflege“, funktioniert im Kern in kleinen Gruppen von bis zu zwölf Pflegenden. Diese sind für ein bestimmtes Wohnviertel zuständig, in dem sie Menschen im Alltag unterstützen und pflegen. Zudem organisieren sich die Teams auch in allen anderen Bereichen selbst: von der Planung der Dienste und der Entwicklung der Mitarbeitenden bis hin zum Einkauf von Materialien. Coaches stehen bei Schwierigkeiten bereit, die Fäden aller Teams laufen in der Zentrale zusammen. Es zeigt sich: Die Mitarbeitenden in einem solchen agilen Arbeitsumfeld sind zufriedener, die Klientinnen und Klienten fühlen sich aufgehobener und diese Arbeit ist auch wirtschaftlicher als andere Systeme. Was im Kleinen klappt, geht auch im Großen.

Die ING hat ihre fünf Hierarchieebenen auf drei eingeschmolzen und die verschiedenen Produkte und Dienstleistungen liegen in der Verantwortung von sogenannten „Squads“. Das sind interdisziplinäre Teams, die dafür verantwortlich sind, dass ein Produkt wie das Girokonto funktioniert und auch weiterentwickelt wird. Lennart Keil und Daniel Vonier stellen in ihrem Ratgeber „unlearning hierarchy“ weitere Erfolgsgeschichten von Organisationen vor, die den Mut zur Selbstorganisation haben. Wie schwer das ist, wissen die beiden aus eigener Erfahrung: In ihrer Tätigkeit als Führungskräfte bei SAP, Siemens und der Deutschen Telekom haben sie selbst erlebt, wie wichtig und schwierig es ist, richtig loszulassen.

Kein Selbstläufer: Selbstorganisation bricht mit hierarchischen Machtansprüchen

Das Festhalten an Hierarchien ist ein strukturelles Problem. So wurde Daniel Vonier 2019 zu einer der wichtigsten New-Work-Konferenzen, der Work Awesome, eingeladen. Er sollte zum Thema Selbstorganisation bei SAP sprechen. Er schlug jedoch vor, dass sein Kollege Lennart Keil den Auftritt übernehmen solle, da dieser näher am Thema sei. „Die Konferenzleitung aber hielt das für keine gute Idee“, erzählt Lennart. „Daniel stehe hierarchisch höher und trage als Abteilungsleiter und Vice President den eindrucksvolleren Titel.“

Tatsächlich spiegelt dieses Erlebnis weite Teile der Arbeitswelt: Agilität und Selbstorganisation werden gern als Buzzwords nach außen getragen und es wird darüber gesprochen – von den hierarchisch oben Stehenden. Leben sollen es aber bitte nur die Mitarbeitenden ganz unten. Selbstorganisation bedeutet zudem, dass Organisationen auch nach außen aus vielen Menschen bestehen – nicht aus dem einen Talent, der herausragenden Führungskraft, dem Vorstand mit Strahlkraft. Selbstorganisation ist also auch eine Frage des Egos.

In ihrem Buch zeigen Lennart Keil und Daniel Vonier, wie tief verwurzelt dieser Widerspruch in unserer Arbeitskultur ist und wie wichtig es ist, hierarchisches Denken hinter uns zu lassen. Denn es profitieren davon alle: Mitarbeitende erleben Selbstwirksamkeit, was sie zufriedener macht, Organisationsstrukturen werden verschlankt und ganze Unternehmenszweige können effizienter arbeiten und wirtschaften. Wer also in Zukunft erfolgreich sein möchte, sollte Vertrauen in die Superkraft der Selbstorganisation entwickeln.

Roter-Reiter-Fazit

Ein Mutmacher-Buch für Organisationsentwickler, Personalentwickler und Führungskräfte, die Wege zur Selbstorganisation kennenlernen möchten.

Lennart Keil und Daniel Vonier: unlearning hierarchy. Expedition in die Selbstorganisation
Vahlen, 2022
220 Seiten, 23,90 Euro
ISBN 978-3-8006-6642-3

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