Organisationaler Diskurs: Veränderungen bei der Wurzel packen
Wir wissen schon, was kommt. Wie immer wir das Meeting nennen – Retro, Brainstorming, Kick-off oder Besprechung –, es ist im Endeffekt immer dasselbe: Die Finanzleitung fordert mehr Geld, der Marketer zeigt seine Projekte her, die Personalabteilung wünscht sich mehr Freiraum und der Rest schaut zu, teilt seine Perspektive je nach Situation mit oder schweigt. Zum Schluss gehen alle mit einem To-do aus der Runde – bevor das Spiel bald wieder von vorne beginnt.
„Es wird in Bewertungen gesprochen, ohne die Beobachtung zu benennen, es gibt keine Momente des Schweigens und Probleme werden nicht in der Tiefe betrachtet“, beobachtet Stephanie Borgert, die als Komplexitätsforscherin Organisationen und Teams bei Veränderungen begleitet.
Warum sind Menschen Change-müde?
In ihrem Buch „Gemeinsam denken, wirksam verändern“ zeigt sie auf, wie Change-Prozesse von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind: mit dem Menschen als Feindbild. Mit dem Mitarbeiter, der sich im Transformationsprozess nicht abgeholt fühlte. Der Change-müden Mitarbeiterin. Also der störrischen Belegschaft. Die Ursache sieht sie in der Herangehensweise, die in einem Großteil der Organisationen zu beobachten ist. Transformation wird als Projekt aufgefasst, für das sich alle Bestandteile zusammenkaufen lassen. „Je nachdem, welches Thema die ,Selbstdiagnostik‘ ergeben hat, wird dann etwas zu Changemanagement gebucht“, konstatiert Stephanie Borgert, „Wenn die Leute lernen, wie sie Menschen mitnehmen, Widerständen vorbeugen und mit Kreativität zum Erfolg gelangen, sollte alles in Ordnung sein.“
Die Komplexitätsforscherin fordert: „Lasst die Leute in Ruhe!“ Anstatt zu versuchen, Menschen hinzubiegen, sollten sie dazu eingeladen werden, an der Organisation zu arbeiten, eine veränderte Organisation zu denken. Und dazu stellt Stephanie Borgert das Konzept des Organisationalen Diskurses vor: „Im Organisationalen Diskurs, der in Kleingruppen stattfindet, denken die Teilnehmenden über ihr Denken nach“, erklärt sie, „über Struktur und geltende Normen in der eigenen Organisation, die Routinen ihres Handelns und die kollektiven Bewertungsmuster.“ Dabei ist jeder Teilnehmende dazu ermuntert, seine eigene Perspektive zu verlassen, über scheinbar festzementierte Strukturen nachzudenken: Was wäre, wenn …?
Gemeinsam denken – weniger agieren
So erzählt die Autorin von einem agilen Team, das sie in einer Retro begleitete. Über einige Punkte ging das Team einfach hinweg: Wichtige Projekte ziehen sich über mehrere Wochen? Die Antwort: Das ist immer so, wir müssen einfach die Aufgaben reduzieren. Klappte nur leider bisher nie. Die Anforderungen des Vorstands sind eine Hürde, die immer zusätzliche Arbeit mit sich bringt?
Die Antwort: Ja, das ist immer so. Und schon will das Team weitergehen. Aber warum hier nicht einmal anhalten. Eine Pause machen und auf einer höheren Ebene über die Situation, ihre Systematik und die Ursachen nachdenken? „Sie erzählen von einigen Mustern und Routinen, die stören und trotzdem in jeder Retro wieder Thema sind“, erzählt Stephanie Borgert. „Das Team gesteht sich ein, nicht wirklich gelernt zu haben aus den Rückbetrachtungen.“ In ihrem Ratgeber stellt die Beraterin den vierstufigen Prozess des Organisationalen Diskurses vor, der solchen tiefergehenden Denkprozessen einen Rahmen gibt.
So wird echte Veränderung möglich: indem gemeinsam an der Organisation gearbeitet wird, anstatt an vielen verschiedenen Orten neue Baustellen aufzureißen, die dann nie beendet werden.
Roter-Reiter-Fazit
Change ist kein Projekt, das sich mit Blick auf den Timetable abarbeiten lässt. Echte Veränderung geht tief und Stephanie Borgert zeigt in ihrem Buch, wie Organisationen mit dem Organisationalen Diskurs diesem Prozess einen professionellen Rahmen geben.
Stephanie Borgert: Gemeinsam denken, wirksam verändern. Organisationaler Diskurs als Schlüssel zum Change
Vahlen, 2024
200 Seiten, 24,90 Euro
ISBN 978-3-8006-7295-0